Wie Zentralbanken der Herausforderung einer niedrigen Inflation begegnen
Marjolin-Vortrag von Mario Draghi, Präsident der EZB,anlässlich des SUERF-Kolloquiums der Deutschen Bundesbank, Frankfurt am Main, 4. Februar 2016
Robert Marjolin spielte eine zentrale Rolle bei der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion. Als die Römischen Verträge 1957 unterzeichnet wurden, beschränkten sich die Ziele der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft weitgehend auf die Schaffung einer Zollunion und eines Gemeinsamen Agrarmarkts. Für beides schien eine währungspolitische Integration damals nicht erforderlich. Erst mit dem sogenannten „Marjolin-Memorandum“ im Jahr 1962 wurde offiziell anerkannt, dass ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung zusammengehören, und man begann, ernsthaft über eine europäische Währungsintegration zu diskutieren.
Heute, mehr als 60 Jahre später, ist die Währungsintegration im Euroraum abgeschlossen und sicher. Doch die Geldpolitik sieht sich mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert. Unser Mandat ist trotz dieser Herausforderungen immer noch dasselbe, aber in der praktischen Umsetzung müssen wir heute neue Wege gehen.
Um zu verstehen, wie wir auf diese Herausforderungen reagiert haben, ist es sinnvoll, folgende zwei Kategorien von Herausforderungen zu unterscheiden:
Zum einen Herausforderungen, mit denen sich alle Zentralbanken in fortgeschrittenen Volkswirtschaften gleichermaßen konfrontiert sehen und die mit dem weltweiten Umfeld niedriger Inflation in Zusammenhang stehen.
Zum anderen Herausforderungen, die speziell uns im Euroraum betreffen und mit unserem besonderen institutionellen Rahmen in Zusammenhang stehen.
Herausforderungen für alle Zentralbanken
Die Kernfrage für alle großen Zentralbanken lautet heute: Können wir unser Preisstabilitätsmandat noch erfüllen? In allen fortgeschrittenen Volkswirtschaften weist die Inflation ein niedriges Niveau auf, und dies schon seit Längerem. In mehreren dieser Volkswirtschaften liegen die aus Marktpreisen abgeleiteten langfristigen Inflationserwartungen weiterhin unter unserer numerischen Definition von Preisstabilität. Für manche stellt sich daher die Frage, ob Zentralbanken zum Erreichen ihrer Inflationsziele auf eine expansive Geldpolitik setzen sollten. Führen sie einen aussichtslosen Kampf gegen Kräfte, auf die sie keinen Einfluss haben?
Im Wesentlichen gibt es drei Argumentationsansätze, die sich gegen eine geldpolitische Reaktion auf die aktuell zu beobachtende niedrige Inflation aussprechen.
Die Ursachen einer zu niedrigen Inflation
Der erste Argumentationsansatz besagt, dass niedrige Inflation zunehmend durch strukturelle Faktoren in der Weltwirtschaft bedingt sei und einzelstaatliche geldpolitische Impulse daher ins Leere liefen. Die bisherige Auffassung, dass eine niedrige und stabile Preissteigerung bei Inflationsraten von rund 2 % gegeben ist, sei folglich nicht mehr realistisch. Die Zentralbanken müssten ihre Inflationsziele entsprechend nach unten korrigieren.
Wenn diese Argumentation richtig wäre, würde damit das Mandat von Zentralbanken grundlegend infrage gestellt. Schließlich basierte die Entscheidung, Zentralbanken Preisstabilitätsziele vorzugeben und ihnen bei der Umsetzung dieser Ziele freie Hand zu lassen, auf der Prämisse, dass Inflation letztlich immer ein monetäres Phänomen ist und sich mittelfristig somit immer durch eine auf ihren Auftrag verpflichtete geldpolitische Instanz kontrollieren lässt.
Trifft es also zu, dass die heute zu beobachtenden strukturellen Veränderungen dauerhafte Auswirkungen auf das langfristige Inflationsniveau haben?
Eine der in diesem Zusammenhang oft genannten strukturellen Veränderungen ist der demografische Wandel. Dieser wird sicher große wirtschaftliche Veränderungen bringen, die Auswirkungen auf die Inflationsentwicklung sind jedoch ex ante nicht absehbar. Der demografische Wandel könnte zu Abwärtsdruck auf die Preise führen, wenn die Gesamtnachfrage stärker zurückgeht als das Gesamtangebot. Er könnte aber auch einen Preisauftrieb verursachen: Der Lebenszyklushypothese zufolge impliziert eine alternde Bevölkerung, dass ältere Menschen zum Lebensende hin ihre Ersparnisse aufbrauchen und mehr konsumieren. [1] Welcher Effekt dominiert, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Es scheint jedenfalls unwahrscheinlich, dass die demografische Entwicklung eine Erklärung dafür liefern kann, weshalb die Inflation in fortgeschrittenen Volkswirtschaften mit ganz unterschiedlichen demografischen Profilen heute so niedrig ist.
Selbst wenn der Alterungsprozess in der Bevölkerung zu einer disinflationären Phase führt, beispielsweise durch Ungleichgewichte im Spar- und Investitionsverhalten, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das Inflationsniveau damit dauerhaft sinkt. Bei einem Ersparnisüberhang wäre lediglich der zur Gewährleistung von Preisstabilität erforderliche gleichgewichtige Realzinssatz niedriger, und die Zentralbank müsste dies bei ihrer Geldpolitik berücksichtigen. Anders ausgedrückt: Die Auswirkungen des demografischen Wandels würden uns dazu zwingen, unsere Instrumente anzupassen, nicht aber unsere Ziele.
Auch andere strukturelle Veränderungen, die einigen Beobachtern zufolge langfristige Auswirkungen auf die Inflation haben, werden in der Diskussion genannt. So hat mittlerweile eine Umkehr des langfristigen Preiszyklus an den Rohstoffmärkten eingesetzt. Auch auf den technologischen Wandel wird in diesem Zusammenhang verwiesen, insbesondere auf den E-Commerce, der mehr Preistransparenz bringt und für mehr Wettbewerb zwischen Anbietern und Einzelhändlern sorgt und damit einen preisdämpfenden Effekt haben könnte. Ein dritter Aspekt ist die Globalisierung, mit der Weltmarktpreise gegenüber Preisen an den nationalen Märkten an Bedeutung gewinnen könnten, sodass es für fortgeschrittene Volkswirtschaften schwieriger wird, einen Import von Disinflation aus dem Ausland zu vermeiden. [2]
All diese Entwicklungen könnten Auswirkungen auf die Inflation haben. Das steht außer Zweifel. Doch es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich um dauerhafte Effekte handelt. Ein Beispiel: Dauerhafte Angebotsveränderungen am Energiemarkt dürften sich höchstwahrscheinlich dauerhaft auf das Preisniveau auswirken. Irgendwann wird sich die Disinflation bei den Energiepreisen jedoch zwangsläufig wieder umkehren, und sei es nur infolge von Basiseffekten. Und auch ein eventuell preisdämpfender Effekt des E-Commerce wird nur so lange anhalten, bis bei dessen Verbreitung ein stabiles Niveau erreicht ist. Zudem dürfte die angesichts der Globalisierung niedrigere importierte Inflation letztendlich zu höheren Preisen andernorts führen, da das verfügbare Einkommen steigt und es zu einer länderübergreifenden Angleichung des Lohnniveaus und sonstiger Kosten kommt.
Wir sehen daher keinen Grund, weshalb eine dieser strukturellen Veränderungen dazu führen sollte, dass unsere derzeitigen Stabilitätsziele nicht zu erreichen sind. Es können sich zwar globale disinflationäre Kräfte entwickeln, diese sind jedoch nur vorübergehender Natur. Sollte der Einfluss dieser Kräfte auf die Inflation jedoch von Persistenz sein, d. h. sollten sie sich in der Inflationsentwicklung und den Inflationserwartungen festsetzen, könnte sich dies auf unser Ziel auswirken. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein strukturelles Problem. Vielmehr geht es hier um die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik bei der Verankerung der Inflationserwartungen.
Dies bringt mich zum zweiten Argumentationsansatz, der sich gegen eine aktive Geldpolitik wendet.
Die Reaktion auf zu niedrige Inflation
Manch einer meint, dass für Zentralbanken kein allzu großer Handlungsbedarf bestehe, solange wir hauptsächlich positive Angebotsschocks erleben. Wir könnten einfach den mittelfristigen Zeithorizont neu definieren, über den Preisstabilität gewährleistet wird, und die ganze Sache „aussitzen“, bis die Inflationsrate wieder das von uns angestrebte Niveau erreicht hätte. Allerdings legen Zentralbanken den mittelfristigen Zeithorizont gerade deshalb nicht als kalendarischen Zeitraum fest, weil der Zeithorizont für Interventionen von der Art des Schocks abhängt.
An dieser Argumentation ist so weit nichts auszusetzen. Zentralbanken reagieren in der Regel nicht auf Angebotsschocks mit gegenläufigen Auswirkungen auf Produktion und Inflation, um überzogene Reaktionen zu vermeiden und den Wachstumseffekt in die eine oder andere Richtung nicht noch zu verstärken. Dies könnte auch für Fälle gelten, in denen sich die Zentralbanken mit mehreren aufeinanderfolgenden Angebotsschocks konfrontiert sehen, wie z. B. bei dem zuletzt beobachteten Ölpreisrückgang. Im Prinzip sollte jeder Schock von kurzer Dauer sein und keinen dauerhaften Effekt auf die Inflation haben.
Da die Inflationsentwicklung jedoch immer auch eine vergangenheitsorientierte Komponente enthält, ist das Risiko, dass die Inflation nicht automatisch wieder auf den angestrebten Wert zurückkehrt, umso größer, je länger die Inflationsrate auf einem zu niedrigen Niveau verharrt. Insbesondere wenn die Wirtschaftssubjekte sich stärker an der jüngsten Inflationsentwicklung als am Inflationsziel orientieren, schlägt sich dies in den Referenzgrößen für Lohn- und Preissetzungsentscheidungen nieder. Die niedrige Inflation führt dann zu niedrigen Inflationserwartungen, sodass sich Zweitrundeneffekte ergeben.
Damit kann sogar ein Szenario, das als positiver Angebotsschock begann, in einen negativen Nachfrageschock umschlagen. Mit sinkenden Inflationserwartungen kommt es zu einem Anstieg der Realzinsen und damit zu einer unerwünschten Straffung der Geldpolitik. Außerdem sorgt die unerwartet niedrige Inflation für eine höhere reale Schuldenlast, was aufgrund der unterschiedlichen Konsum- und Investitionsneigung von Kreditnehmern und -gebern negative Auswirkungen auf die Gesamtnachfrage hat. Produktion und Inflation entwickeln sich dann wieder in dieselbe Richtung – allerdings abwärts.
Aus diesem Grund kann die Geldpolitik in einem von anhaltend niedriger Inflation geprägten Umfeld bei aufeinanderfolgenden Angebotsschocks nicht einfach eine abwartende Haltung einnehmen. Dies birgt zusammen mit der Ausweitung des Zeithorizonts für die Geldpolitik Risiken. Die Inflationserwartungen können sich aus ihrer Verankerung lösen, was wiederum eine dauerhaft niedrigere Inflation zur Folge hat. Sollte es hierzu kommen, müsste mit einer noch sehr viel expansiveren Geldpolitik gegengesteuert werden. So betrachtet, ist es riskanter, zu spät zu handeln, als zu früh.
Unter dem Strich bleibt festzuhalten, dass die mittelfristige Preisstabilität auch bei länger anhaltenden globalen Schocks immer noch von der Geldpolitik bestimmt wird. Wenn wir uns der niedrigen Inflation nicht „kampflos ergeben“ – was wir ganz gewiss nicht tun werden – wird die Inflation längerfristig wieder auf ein Niveau zurückkehren, das mit unserem Ziel vereinbar ist. Wenn wir indes vor „unaufhaltsamen disinflationären Kräften“ kapitulieren oder uns auf lange Übergangsphasen einstellen, wird dies nur einen disinflationsverlängernden Effekt haben.
Diese Lehre lässt sich ganz klar aus der Geschichte der Geldpolitik ableiten, insbesondere aus den Erfahrungen der 1970er-Jahre. Damals argumentierten viele Entscheidungsträger, dass die anhaltend hohe Inflation strukturelle Ursachen habe und die Zentralbanken nur wenig dagegen ausrichten könnten. Ein Beispiel: Im Mai 1971, als Arthur Burns Vorsitzender der US-Notenbank war, kamen Experten in einer Präsentation vor dem Offenmarktausschuss (Federal Open Market Committee – FOMC) zu dem Schluss – wie einige unserer Kritiker heute auch –, dass die Frage, ob die Geldpolitik irgendetwas zur Bekämpfung einer fortbestehenden Kerninflation tun könne oder solle, ihrer Einschätzung nach negativ zu beantworten sei. Kontinuierliche Kostensteigerungen sollten nicht als strukturelles Problem betrachtet werden, das mit makroökonomischen Maßnahmen nicht zu lösen sei. [3]
Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der US-Notenbank William Miller bei seiner ersten FOMC-Sitzung im März 1978, als er feststellte, dass die Inflation der Federal Reserve überlassen bleibe und das eine schlechte Nachricht sei. Ein wirksames Programm zur Senkung der Inflation müsse über die Geldpolitik hinausgehen und durch Programme ergänzt werden, die auf eine Förderung des Wettbewerbs und die Korrektur struktureller Probleme ausgerichtet seien . [4] Erst als Paul Volcker im Jahr 1979 den Vorsitz übernahm und den geldpolitischen Zeithorizont verkürzte, hat sich die Federal Reserve ganz der Kontrolle der Inflation verschrieben. Die Inflation, die im März 1980 einen Höchststand von ca. 15 % erreichte, ging bis 1983 auf unter 3 % zurück.
Von manchem wird das Argument ins Feld geführt, dass Volcker damals die Zinsen zur Eindämmung der Inflation auf 20 % anheben konnte, während den Zentralbanken heute im Kampf gegen die Disinflation durch die Zinsuntergrenze die Hände gebunden sind. Als Beweis wird oft die Entwicklung in Japan nach dem Platzen der Immobilienblase Anfang der 1990er Jahre angeführt.
Tatsächlich zeigt dieses Beispiel jedoch einmal mehr, wie wichtig es ist, dass die Geldpolitik konsequent handelt. Solange die Verpflichtung der Bank of Japan auf ihr erklärtes Ziel einer Inflation im niedrigen positiven Bereich nicht klar war, blieben die tatsächliche Inflation und die Inflationserwartungen im deflationären Bereich. Seit die Bank of Japan jedoch entschlossen das Ziel einer Preissteigerungsrate von 2 % verfolgt, ist die Kerninflation von unter -0,5 % im Jahr 2012 auf mittlerweile fast 1 % gestiegen. Damit ist Japan von dem 2 %-Ziel zwar immer noch ein gutes Stück entfernt, aber wie alle anderen entwickelten Volkswirtschaften bleibt auch Japan von Preisschocks nach unten nicht verschont.
Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Belegen dafür, dass uns, wenn der Wille zum Erreichen unseres Zieles da ist, auch die nötigen Instrumente dafür zur Verfügung stehen. Die EZB und andere haben gezeigt: Wo immer die Zinsuntergrenze auch liegen mag, sie liegt nicht bei null. Außerdem haben wir gezeigt, wie mit Sondermaßnahmen, sogar ohne große Änderungen des Tagesgeldsatzes, geldpolitische Impulse gesetzt und entsprechende Effekte erzielt werden können. So hatten beispielsweise die von der EZB seit Sommer 2014 ergriffenen Sondermaßnahmen den gleichen Effekt wie eine Zinssenkung um 100 Basispunkte unter „normalen“ Bedingungen.
Es gibt also keinen Grund für Zentralbanken, ihr Mandat aufzugeben, nur weil wir alle von der weltweiten Disinflation betroffen sind. Wenn sich alle Zentralbanken dieser Logik beugen würden, hätte dies vielmehr den Effekt einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn wir stattdessen alle daran arbeiten, unsere Mandate zu erfüllen, können wir die globalen disinflationären Kräfte letztlich in den Griff bekommen.
Die Kosten einer Bekämpfung zu niedriger Inflation
Manche argumentieren jedoch, dass Zentralbanken, selbst wenn sie den weltweiten disinflationären Kräften entgegenwirken können, mehr Schaden als Nutzen anrichten. So führe die expansive Geldpolitik in der Binnenwirtschaft zu einer massiven Anhäufung von Schuldtiteln in Fremdwährung oder zu Vermögenspreisblasen im Ausland, vor allem in aufstrebenden Volkswirtschaften. Der letztendlich folgende Abbau dieser Ungleichgewichte belaste das Weltwirtschaftswachstum und verstärke die globale Disinflation nur noch weiter, so der dritte Argumentationsansatz.
Aber lassen Sie mich folgende Frage stellen: Was wäre die Alternative? Würde es den aufstrebenden Volkswirtschaften helfen, wenn die Zentralbanken in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften ihr Mandat nicht mehr erfüllen? Würde dies eher zu globalem Wachstum beitragen? Die Antwort lautet natürlich: nein. Die Stabilität großer Volkswirtschaften ist von zentraler Bedeutung für deren Handelspartner und die Weltwirtschaft. Ein von diesem Ziel abweichender geldpolitischer Kurs wäre bei einer in unseren Ländern noch fragilen wirtschaftlichen Entwicklung nicht im Interesse der aufstrebenden Volkswirtschaften. In Bezug auf den Euroraum gilt dies insbesondere für unsere Nachbarländer, die rund 50 % ihrer Waren und Dienstleistungen in den Euroraum exportieren.
Wo Zentralbanken in der Vergangenheit mit einer über Gebühr restriktiven Geldpolitik bei beginnender konjunktureller Erholung die entgegengesetzte Strategie verfolgten, sind die Ergebnisse nicht besonders überzeugend. So begann beispielsweise die Federal Reserve in den Jahren 1936-37, zum Teil aus Sorge vor einer neuerlichen Blasenbildung am Aktienmarkt, mit der Erhöhung der Mindestreserveanforderungen, musste mit dem Rückfall der Wirtschaft in die Rezession im darauffolgenden Jahr jedoch wieder zurückrudern. Einige Zentralbanken haben in den letzten Jahren ähnliche Erfahrungen gemacht: Zinserhöhungen zur Abwendung von Finanzstabilitätsrisiken haben das vorrangige Ziel der Zentralbanken untergraben, und letztlich mussten die Zinsen länger auf einem niedrigen Niveau gehalten werden.
Daraus lässt sich schließen, dass das sogenannte „Assignment-Problem“ zwischen Geldpolitik und Finanzstabilität nicht nur auf einzelstaatlicher Ebene sondern weltweit bestehen dürfte. Die Geldpolitik sollte nicht versuchen, gegensätzliche Ziele miteinander in Einklang zu bringen: Am besten für alle Beteiligten ist es, wenn sie ihr Mandat erfüllt. Und wenn sich daraus Bedenken mit Blick auf die Finanzstabilität ergeben, sind andere Instrumente gefragt, die hier besser greifen. Und hier gibt es in der Tat eine Reihe von Ansatzpunkten.
Länder können ihre Finanzregulierung und ihre Aufsicht verbessern, um die Widerstandsfähigkeit ihrer Finanzsysteme gegenüber externen Schocks zu erhöhen. Sie können ihre Haushaltspolitik anpassen. Sie können makroprudenzielle Maßnahmen ergreifen. Die Erfahrung zeigt, dass sich mit diesen Instrumenten durchaus etwas erreichen lässt: Aufstrebende Volkswirtschaften unterscheiden sich erheblich in ihrer Anfälligkeit gegenüber weltweiten finanziellen Entwicklungen, und der Grund dafür liegt im jeweiligen politischen Rahmen. [5] Zudem gibt es punktuell Belege dafür, dass makroprudenzielle Maßnahmen in asiatischen Volkswirtschaften Wirkung zeigen, vor allem im Hinblick auf eine Abkühlung des Immobiliensektors.
Und lässt man diese allgemeinen Erwägungen einmal beiseite, so sollte man sich schließlich die Frage stellen, ob eine solche auf geldpolitischen Ansteckungseffekten gründende Argumentation überhaupt auf den Euroraum zutrifft. Betrachtet man beispielsweise Ansteckungseffekte bei den Vermögenspreisen, so gibt es keine Belege dafür, dass die Ankündigung des Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme – APP) eine Welle von Portfolioumschichtungen zugunsten der aufstrebenden Volkswirtschaften ausgelöst hat. Vielmehr deuten empirische Daten darauf hin, dass sich Anleger weltweit in Reaktion auf das APP von den Renten- und Aktienmärkten der aufstrebenden Volkswirtschaften weg hin zu den Rentenmärkten der fortgeschrittenen Volkswirtschaften, insbesondere im Euroraum, orientiert haben. [6]
Betrachten wir nun die Schuldtitel in Fremdwährung, so lässt sich zwar feststellen, dass die niedrigen Zinsen im Euroraum in den vergangenen beiden Jahren außerhalb des Euroraums zu einer deutlichen Zunahme des Emissionsvolumens auf Euro lautender Schuldtitel geführt haben. Emissionen in Euro machen aber immer noch lediglich etwa ein Viertel der internationalen Emissionstätigkeit aus, während zwei Drittel auf den US-Dollar entfallen. Hinzu kommt: Bei den jüngsten Emissionen von Auslandsanleihen in Euro führten US-Unternehmen mit Investment Grade-Rating und in den aufstrebenden Volkswirtschaften bonitätsstarke Emittenten das Feld an. Belege für nachteilige Ansteckungseffekte und Finanzstabilitätsrisiken scheinen also begrenzt zu sein.
Euroraumspezifische Herausforderungen
Zentralbanken sind also auch angesichts allgemeiner globaler Schocks in der Lage, ihr Mandat zu erfüllen. Im Euroraum muss die geldpolitische Antwort jedoch anders aussehen als in anderen Wirtschaftsräumen. Dies liegt daran, dass wir zusätzlich zu den allgemeinen auch mit weitgehend euroraumspezifischen Herausforderungen konfrontiert sind. Diese sind das Resultat unseres institutionellen Rahmens: Unsere Geldpolitik erfolgt in einem segmentierten Banken- und Kapitalmarkt, ohne eine gemeinsame, für den gesamten Euroraum zuständige finanzpolitische Instanz als Gegenpart. Aus dieser Konstellation ergeben sich insbesondere zwei Arten von Herausforderungen.
Die Transmission des geldpolitischen Kurses
Die erste Herausforderung steht in Zusammenhang mit dem geldpolitischen Transmissionsmechanismus. Viele Zentralbanken sahen sich während der Krise mit Störungen im Transmissionsprozess konfrontiert – aus diesem Grund intervenierte beispielsweise die Federal Reserve am Markt für Mortgage-Backed Securities und legte die Bank of England ihr Programm für zweckgebundene Notenbankkredite ( Funding for Lending Scheme) auf. Es versteht sich jedoch von selbst, dass die Störungen im Euroraum deutlicher zu spüren waren als andernorts. Zudem hatten sie eine ausgeprägte regionale Dimension, was in anderen Ländern nicht der Fall war.
Unsere spezifische Herausforderung ist das Ergebnis eines unvollständigen Banken- und Kapitalmarkts, was weniger Risikoteilung bedeutet. Im Vergleich zu einem voll integrierten Markt sind private Anlageportfolios im Euroraum geografisch weniger diversifiziert, was die Auswirkungen lokaler Wirtschaftsabschwünge verstärkt. Die Kreditmärkte sind weniger integriert, was eine Finanzierung in anderen Ländern der Währungsunion zur Abfederung derartiger Schocks erschwert. Hinzu kommt, dass die Institutionen für eine grenzübergreifende staatliche Risikoteilung weniger entwickelt sind, sodass einzelne Länder die Auswirkungen solcher Schocks alleine bewältigen müssen.
Für die geldpolitische Transmission hat dies zwei Konsequenzen. Zum einen dürften damit einige der wichtigsten Transmissionskanäle – nämlich der Bankkreditkanal und der Bilanzkanal – bei größeren Schocks stärker von Störungen betroffen sein. Zum anderen ergibt sich daraus eine Fragmentierung der Finanzmärkte entlang nationaler Grenzen, da privates und staatliches Risiko auf nationaler Ebene zusammenlaufen. Das behindert die Transmission der Geldpolitik in den Regionen, in denen geldpolitische Impulse am dringendsten benötigt werden.
Nichts vom Vorgenannten bedeutet, dass wir unser Mandat nicht erfüllen können. Aber es bedeutet, dass wir unsere geldpolitischen Instrumente entsprechend ausgestalten müssen. Daher waren unsere Maßnahmen über weite Strecken der Finanzkrise auch darauf ausgerichtet, Störungen bei der reibungslosen Transmission unserer geldpolitischen Maßnahmen zu beheben.
Zu Beginn der Krise musste zu diesem Zweck dem Austrocknen der Interbankenmärkte, auch bei längeren Laufzeiten, gegengesteuert werden, um den grenzüberschreitenden Liquiditätsfluss sicherzustellen. Später haben wir dann unangemessene Redenominierungsrisiken aus den Märkten für Staatsanleihen genommen und konnten so zum Abbau des Banken-Staaten-Nexus beitragen. Kürzlich haben wir ein Maßnahmenpaket zur Förderung der Kreditvergabe aufgelegt, mit dem u. a. sichergestellt werden soll, dass das Deleveraging bei den Banken nicht dazu führt, dass die Kreditzinsen der einzelnen Länder übermäßig divergieren. Die Daten deuten darauf hin, dass alle diese Maßnahmen erfolgreich waren. [7]
Dennoch ist klar, dass Fragmentierungsrisiken nur dann endgültig beseitigt werden können, wenn sie an ihrer institutionellen Wurzel gepackt werden. Und aus diesem Grund war die Schaffung einer Bankenunion – das Thema unserer heutigen Konferenz – eine so wesentliche Ergänzung der Währungsunion.
Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus bietet einen Rahmen für einen stärker integrierten Bankenmarkt, der bei Stresssituationen weniger fragmentierungsanfällig wäre. Der Einheitliche Abwicklungsmechanismus erleichtert das grenzüberschreitende Teilen von Risiken. Und die Verpflichtung auf die Schaffung einer Kapitalmarktunion ist ein erster Schritt hin zu einer stärkeren geografischen Diversifizierung, vor allem in Bezug auf grenzüberschreitende Bestände an Anteilsrechten.
Was jedoch immer noch fehlt, ist eine Vereinbarung über die dritte Säule der Bankenunion, die Einlagensicherung, Kernelement einer echten Währungsunion. Daher ist der Vorschlag der Europäischen Kommission in Bezug auf die Einrichtung eines europäischen Einlagensicherungssystems zu begrüßen. Zum einen hat man sich damit das ehrgeizige Ziel gesetzt, ein wahrhaft europäisches System zum Schutz der Einleger zu schaffen. Dies wird die Schaffung eines Binnenmarkts für Einlagen fördern, an dem die Fungibilität von Einlagen unabhängig von Landesgrenzen gewährleistet ist und in dem überall Vertrauen in Bezug auf die Sicherheit von Bankeinlagen besteht.
Zum anderen ist der Vorschlag realistisch und mit einer Reihe von Sicherheitsmechanismen im Hinblick auf Moral-Hazard-Probleme ausgestattet, sodass aus dem Teilen von Risiken kein Abwälzen von Risiken werden kann. Maßnahmen zur Risikominderung und Risikoteilung sind zwei Seiten derselben Medaille und sollten parallel verfolgt werden: Beide sind Grundvoraussetzungen für die Sicherung von Stabilität im europäischen Bankensektor und gewährleisten eine einheitliche Transmission unserer Geldpolitik.
Ausweitung des geldpolitischen Instrumentariums
Mit der zweiten euroraumspezifischen Herausforderung waren wir konfrontiert, als wir unser geldpolitisches Instrumentarium ausweiten mussten. Konkret gesprochen, als wir uns mit dem APP und somit dem Ankauf von Vermögenswerten vom Leitzins als Hauptinstrument der Geldpolitik wegbewegt haben.
Umfangreiche Ankäufe von Vermögenswerten sind zum Teil darauf ausgelegt, den risikolosen Zins zu senken, indem aus dem Markt für Staatsanleihen Duration herausgenommen wird. Im Euroraum haben wir jedoch keinen einheitlichen risikolosen Zins, da wir keinen einheitlichen staatlichen Emittenten haben, der als Benchmark herangezogen werden könnte. Und es gibt keinen nationalen Markt, der als Ersatz dienen könnte. Dies liegt nicht nur an Voluminabeschränkungen, sondern auch daran, dass keine Staatsanleihe im Euroraum wirklich frei von Risiken ist. Aufgrund des Verbots der monetären Finanzierung ist jede Staatsanleihe mit einem gewissen Kreditrisiko behaftet.
Daher mussten wir bei dem Ankauf von Vermögenswerten in dem von uns als angemessen erachteten Umfang zwangsläufig an mehreren Märkten aktiv werden. Und das heißt, dass sich geldpolitische Geschäfte unbeabsichtigterweise auch auf die Kreditallokation in Bezug auf verschiedene Länder und verschiedene Arten von Schuldnern auswirken können. Das ist weder ungewöhnlich – schließlich hat Geldpolitik immer Allokationseffekte – noch sind wir dadurch in der Erfüllung unseres Mandats eingeschränkt. Wir müssen jedoch darauf hinarbeiten, solche Nebeneffekte zu minimieren, unter der Maßgabe, dass wir unser Preisstabilitätsziel erreichen. Dies kann auf zweierlei Weise erreicht werden.
Zum einen können wir unsere geldpolitischen Instrumente so ausgestalten, dass es nur zu minimalen Verzerrungen kommt. Das haben wir im Rahmen des APP getan, indem wir uns bei unseren Ankäufen in erster Linie auf die am stärksten „standardisierten“ Anlageklassen, d. h. die Märkte für Staatsanleihen in jedem Land, konzentriert und das Ankaufsvolumen anteilig auf die einzelnen Länder verteilt haben. Daraus ist ein wirklich diversifiziertes euroraumübergreifendes Portfolio entstanden.
Zum anderen lassen sich Allokationseffekte auch über eine weitere Integration der Märkte, an denen wir tätig werden, verringern. Das gilt insbesondere für Staatsanleihen. Ein solider, glaubwürdig umgesetzter haushaltspolitischer Rahmen würde das mit einzelnen Staatsanleihen im Euroraum einhergehende Risiko reduzieren, was wiederum zu einer Homogenisierung des Effekts von Interventionen an den verschiedenen Märkten führen würde.
Eines ist jedoch klar: Sollte uns eine expansivere Geldpolitik geboten erscheinen, würde uns das Risiko von Nebeneffekten nicht daran hindern, diesen Weg einzuschlagen. Wir sind stets bestrebt, die durch unsere Entscheidungen verursachten Verzerrungen zu minimieren; zuallererst sind wir jedoch dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Genau das bedeutet der Grundsatz der monetären Dominanz, wie er im Vertrag festgeschrieben ist und durch den die Geldpolitik ihre Glaubwürdigkeit erhält.
Monetäre Dominanz bedeutet, dass wir uns mit allen beabsichtigten wie unbeabsichtigten Folgen unserer geldpolitischen Geschäfte auseinandersetzen können – und auch sollten. Sie bedeutet aber auch, dass diese Folgen uns niemals von der Erfüllung unseres Mandats abhalten sollten. Würden wir dies zulassen, würden wir damit unseren gesetzlichen Auftrag neu definieren – was uns nicht zusteht.
Fazit
Lassen Sie mich das Gesagte noch einmal rekapitulieren.
Ein Zusammenspiel von Kräften in der Weltwirtschaft sorgt derzeit für eine anhaltend niedrige Inflation. Diese Kräfte könnten bewirken, dass die Inflation langsamer zu dem von uns angestrebten Ziel zurückkehrt. Es gibt jedoch keinen Grund, anzunehmen, dass es dadurch zu einer dauerhaft niedrigeren Inflationsrate kommt.
Entscheidend ist, dass die Zentralbanken im Rahmen ihrer Mandate handeln, um diese Mandate zu erfüllen. Im Euroraum kann die Geldpolitik damit vor andere Herausforderungen gestellt sein als in anderen Ländern. Doch diese Herausforderungen sind zu bewältigen. Sie sind kein Grund, nicht zu handeln.
[1]Die Ergebnisse der meisten empirischen Studien, die zu dem Schluss kommen, dass eine alternde Bevölkerung zu einem Absinken des Inflationsniveaus führt, konzentrieren sich auf Japan. In kaum einem anderen Land vollzieht sich der Übergang von einer älter werdenden Gesellschaft zu einer überalterten Gesellschaft so schnell wie in Japan (siehe beispielsweise Jong-Won Yoon, Jinill Kim & Jungjin Lee, 2014. „Impact of Demographic Changes on Inflation and the Macroeconomy“, IMF Working Papers 14/210, Internationaler Währungsfonds). Ein erst vor Kurzem veröffentlichtes BIZ-Arbeitspapier von Juselius und Takats (2015) widerspricht indes der vorherrschenden Meinung: Bei der Analyse von niederfrequenten Korrelationen haben die Verfasser festgestellt, dass ein größerer Anteil junger oder alter Kohorten mit höherer Inflation einhergeht, ein größerer Anteil von Kohorten im erwerbsfähigen Alter hingegen mit niedrigerer Inflation. Dies zeigt, wie schwierig es ist, die Auswirkungen dieses strukturellen Faktors auf die Inflation zu quantifizieren. Siehe Mikael Juselius & Elod Takats, 2015. „Can demography affect inflation and monetary policy?“, BIS Working Papers 485, Bank für internationalen Zahlungsausgleich.
[2]Inflation als globales Phänomen wurde z. B. von Matteo Ciccarelli und Benoit Mojon in einem Artikel aus dem Jahr 2010 dokumentiert. „Global Inflation“, The Review of Economics and Statistics, 92:524-535.
[3]Sitzung des Offenmarktausschusses der Federal Reserve, Memorandum of Discussion, 11. Mai 1971.
[4]Sitzung des Offenmarktausschusses der Federal Reserve, Transcript, 21. März 1978.
[5]Siehe Ben Bernanke, 2015. „Federal Reserve Policy in an International Context“, Paper auf der 16. Jacques Polak Annual Research Conference des Internationalen Währungsfonds vom 5.-6. November 2015.
[6]Siehe Johannes Gräb & Georgios Georgiadis, 2015. „Global Financial Market Impact of the Announcement of the ECB's Extended Asset Purchase Programme“, Federal Reserve Bank of Dallas, Globalization and Monetary Policy Institute, Working Paper No. 232, März.
[7]Zur Wirksamkeit der EZB-Maßnahmen seit Sommer 2014 sei auf die Rede von Mario Draghi auf dem European Banking Congress, Geldpolitik: gestern, heute und morgen, Frankfurt am Main, am 20. November 2015 verwiesen.
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