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Isabel Schnabel
Member of the ECB's Executive Board
  • INTERVIEW

Interview mit Frankfurter Allgemeine Zeitung

Interview von Isabel Schnabel, Direktoriumsmitglied der EZB, geführt von Christian Siedenbiedel am 22. Juli 2024

26. Juli 2024

Frau Schnabel, die EZB hat die Zinsen im Juli nicht weiter gesenkt. Bereiten die steigenden Preise für Dienstleistungen der Notenbank gerade ein Problem?

Wir gehen weiterhin davon aus, dass die Inflation sich im Laufe des nächsten Jahres allmählich unserem Ziel von 2 Prozent annähert. Die hartnäckige Dienstleistungsinflation zeigt aber, dass die „letzte Meile“ der Bekämpfung der Inflation besonders schwierig ist.

Die Inflation liegt jetzt bei 2,5 Prozent, EZB-Ziel sind zwei Prozent. Warum sollte das schwer werden?

Die erste Phase der Inflationsbekämpfung war vergleichsweise einfach. Wir hatten einen Höchststand der Inflation im Euroraum von 10,6 Prozent im Oktober 2022. Danach ist die Inflation schnell auf 2,4 Prozent im November 2023 zurückgegangen. Dies hatte vor allem damit zu tun, dass sich die früheren angebotsseitigen Schocks umgekehrt haben. So sind die gestiegenen Energiepreise wieder gefallen, und die Situation bei den Lieferketten hat sich entspannt. Aber ein Teil der Inflation erweist sich als besonders hartnäckig, und dabei spielen die Dienstleistungen eine zentrale Rolle.

Wo liegt da die Schwierigkeit?

Die Dienstleistungsinflation hängt stark von der Entwicklung der Löhne ab. Die Tarifverträge haben dabei oft eine Laufzeit über mehrere Jahre. Das bedeutet, dass die Inflation relativ lange hoch bleiben kann. Die entscheidende Frage ist aber: Wird das starke Lohnwachstum lediglich getrieben durch einen Aufholprozess der Reallöhne nach den hohen Inflationsraten der vergangenen Jahre, um die Kaufkraftverluste auszugleichen – oder steigen die Löhne zum Teil auch deshalb so stark, weil die Unternehmen aufgrund der Arbeitskräfteknappheit höhere Löhne zahlen müssen. Im ersten Fall kann man davon ausgehen, dass das Lohnwachstum sich wieder normalisiert, sobald der Aufholprozess abgeschlossen ist. Im zweiten Fall könnte es durchaus sein, dass das Lohnwachstum länger hoch bleibt. Und das würde dann bedeuten, dass die Inflation ebenfalls für längere Zeit hoch bleibt. Das müssen wir genau beobachten.

Wo stehen wir da im Moment?

Aktuell ist die Lohnentwicklung über Länder hinweg sehr unterschiedlich. In manchen Ländern ist der Aufholprozess recht weit fortgeschritten. In anderen, und dazu gehört Deutschland, sind die Kaufkraftverluste der letzten Jahre noch längst nicht durch höhere Löhne ausgeglichen worden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Einmalzahlungen das Lohnniveau nicht dauerhaft erhöhen.

Woran kann man merken, ob der von Ihnen beschriebene zweite Fall eintritt und es nicht einfach nur um einen Lohnausgleich für die Inflationswelle geht?

Es dauert eine ganze Weile, bis man das klar sehen kann. Wir gehen in unseren Projektionen davon aus, dass sich das Beschäftigungs- und Lohnwachstum graduell abschwächen, dass die Produktivität sich erholt und dass die Unternehmen zunehmend bereit sind, den Kostenschub zu absorbieren, indem sie geringere Gewinnmargen hinnehmen. Das ist aber nicht garantiert, daher müssen wir da genau hinschauen. Denn im Moment ist das Lohnwachstum nach wie vor sehr stark und das Produktivitätswachstum ist negativ. Und gerade die Unternehmen im Dienstleistungsbereich könnten durchaus versuchen, die höheren Lohnkosten auf die Verbraucherpreise zu überwälzen. Schließlich ist bei den Dienstleistungen die Nachfrage vergleichsweise stark. Bislang war es zudem so, dass eine persistent hohe Dienstleistungsinflation begleitet wurde von einer schnell fallenden Güterpreisinflation. Aber auch das muss nicht dauerhaft so sein. Wir sehen beispielsweise, dass die Frachtkosten deutlich gestiegen sind, und es droht ein wachsender Protektionismus. Beides könnte die Güterpreisinflation erhöhen.

Mit was für Ausschlägen bei der Inflationsrate muss man in den nächsten Monaten rechnen? Können das auch wieder 3 oder 4 oder womöglich 10 Prozent werden?

Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, halte ich sehr starke Ausschläge im Moment für unwahrscheinlich. Seit November vergangenen Jahres schwanken die Inflationsraten um die 2,5 Prozent. Und das wird nach unseren Projektionen im Verlauf dieses Jahres so bleiben. Es wird dabei aber ein gewisses Auf und Ab der Inflationsrate geben, unter anderem aufgrund von statistischen Basiseffekten bei den Energiepreisen.

Was ist mit „Basiseffekten“ gemeint?

Die Gesamtinflationsrate wird stark durch die schwankenden Energiepreise beeinflusst. Wenn es im vergangenen Jahr in einem Monat besonders hohe Energiepreise gab, fällt in diesem Jahr im jeweiligen Monat der Vorjahresvergleich automatisch niedriger aus und umgekehrt. Das ist aber ein rein rechnerischer Effekt, der für mechanische Schwankungen in den Jahresraten sorgt. Im Herbst dürfte es mit der Inflationsrate daher zunächst etwas abwärts gehen, bevor sie zum Jahresende wieder ansteigt. Das sind aber voraussichtlich moderate Schwankungen der Inflation um 2,5 Prozent.

Unter welchen Umständen würden die Alarmglocken bei Ihnen wieder läuten?

Da gibt es keinen festen Grenzwert. Die EZB entscheidet, wie Präsidentin Christine Lagarde immer wieder betont, datenabhängig – aber nicht datenpunktabhängig.

Was soll „nicht datenpunktabhängig“ bedeuten? Das müssen Sie erklären...

Wir treffen unsere Entscheidungen auf Basis einer Analyse der gesamten Datenlage. Wir gleichen die hereinkommenden Daten – etwa die Inflation, die Löhne, die Gewinne – laufend mit unseren Projektionen ab. Insofern kann ein einzelner „Datenpunkt“ wie eine monatliche Inflationsrate durchaus informativ sein, weil diese darauf hindeuten kann, dass wir unsere Annahmen, die hinter den Projektionen stehen, überprüfen müssen. Wir machen unsere Entscheidungen aber nicht von einem einzelnen Datenpunkt abhängig. Solche Abweichungen können schließlich einmalig sein, sie könnten aber auch systematisch sein. Wenn wir systematische Abweichungen erkennen, müssen wir aufmerksam sein. Deshalb schauen wir aktuell so genau auf die Inflation bei den Dienstleistungen, weil diese zuletzt mehrfach höher war als erwartet.

Aber das, was da bis jetzt beobachtet wurde, ist noch keine systematische Abweichung von den Projektionen?

Eine wiederholte Überraschung bei der Dienstleistungsinflation ist zumindest ein Grund, genauer hinzuschauen.

Muss die EZB denn bei der Inflationsbekämpfung in der Größenordnung überhaupt noch viel machen oder kann sie abwarten, was passiert?

Gerade auf der „letzten Meile“ der Inflationsbekämpfung ist die Geldpolitik gefragt. Da kann man eben nicht davon ausgehen, dass die Inflation von allein wieder zurückgeht. Die Geldpolitik hat dabei einerseits einen wichtigen Einfluss auf die Inflationserwartungen. Diese sind entscheidend für die Lohnabschlüsse. Andererseits dämpfen höhere Leitzinsen die aggregierte Nachfrage. Das macht es Unternehmen schwieriger, gestiegene Kosten auf die Verbraucherpreise zu überwälzen.

Über die Zinssenkung der EZB im Juni ist viel diskutiert worden. Kann man im Nachhinein sagen, dass sie doch etwas verfrüht erfolgt ist?

Wir waren im Juni der Ansicht, dass wir ein hinreichendes Vertrauen in den zukünftigen Inflationspfad haben können, um eine erste Zinssenkung vorzunehmen. Aber es gab einige Daten, die nicht ganz im Einklang mit den Projektionen standen. Deshalb müssen wir wachsam bleiben. Aus einem ersten Zinsschritt folgt daher nicht automatisch eine ganze Reihe weiterer Zinsschritte. Deshalb haben wir im Juli die Zinsen unverändert gelassen, und die Zinsentscheidung im September ist vollkommen offen. Wir legen uns nicht auf einen Zinspfad fest. Das Tempo der Zinssenkungen wird von der Datenlage abhängig sein. Dasselbe gilt für die Frage, wie weit wir die Zinsen insgesamt senken können – auch das ist derzeit ungewiss. Sobald wir in die Nähe des „neutralen Zinses“ kommen, bei dem die Geldpolitik weder expansiv noch restriktiv ist, müssen wir vorsichtiger sein und auf Basis der Daten abschätzen, wie restriktiv die Geldpolitik noch ist.

Die amerikanische Notenbank Fed hat ihre Leitzinsen noch überhaupt nicht gesenkt. Ab wann könnte ein unterschiedlicher Kurs von Fed und EZB ein Problem werden?

Ich war immer skeptisch, dass es in diesem Jahr zu einem erheblichen Auseinanderlaufen der Geldpolitik der EZB und der Fed kommt. Denn die Hartnäckigkeit der Inflation ist ein globales Phänomen. Dasselbe gilt für den aktuell großen Beitrag der Dienstleistungen an der Inflation. Es gibt auch keinen Grund, warum EZB und Fed vollständig synchron agieren müssen. Wir treffen unsere Entscheidungen bei der EZB auf Basis aller für den Euroraum relevanten Daten. Diese Daten werden natürlich teilweise durch das beeinflusst, was in den USA passiert; über den Wechselkurs und die globale Nachfrage, aber auch durch die enge Verflechtung der Finanzmärkte.

Verfolgen Sie den Wahlkampf in den Vereinigten Staaten? Ist es wichtig für die Inflation, wer gewinnt?

Wir äußern uns nicht zu politischen Entwicklungen. Aber natürlich hat Politik Auswirkungen auf die Wirtschaft und damit auf die Inflation. Aber wir warten jetzt erst einmal ab.

In der Inflationswelle haben viele Menschen erlebt, dass Dinge des täglichen Bedarfs im Supermarkt und an der Tankstelle viel teurer wurden. Gibt es da Hoffnung, dass die Preise jetzt bald nicht nur weniger steigen, sondern Dinge auch mal wieder billiger werden?

Ein Rückgang der Inflation bedeutet nicht, dass die Preise in der Breite sinken. Ziel der Geldpolitik ist es vielmehr, dass die Preise im Schnitt mittelfristig um 2 Prozent pro Jahr steigen. Das spiegelt sich dann typischerweise in entsprechenden Lohnsteigerungen wider, so dass die Kaufkraft in etwa erhalten bleibt. Natürlich kann es in Einzelfällen zu Preisrückgängen kommen, vor allem bei Gütern, die vorher einen sehr steilen Preisanstieg erlebt haben, wie beispielsweise bei der Energie.

Warum wäre es nicht gut, wenn die Preise in der Inflationswelle um 10 Prozent gestiegen sind, dass sie dann jetzt auch wieder um 10 Prozent fallen?

In der Breite fallende Preise sind in der Regel ein Indiz für eine sehr schwache Wirtschaft. Die wünscht sich niemand. Zudem besteht dann die Gefahr einer Deflationsspirale: Wenn erwartet wird, dass die Preise in Zukunft sinken, könnten Haushalte ihre Konsumwünsche und Unternehmen ihre Investitionen aufschieben. Das kann dann zu einem sich selbst verstärkenden Prozess werden. Das haben wir in der Geschichte zwar selten gesehen, aber es ist aus ökonomischer Sicht jedenfalls nicht wünschenswert.

Unlängst beim Notenbankertreffen im portugiesischen Sintra wurde viel über die ökonomischen Ursachen der Inflationswelle diskutiert. Fanden Sie die Argumente überzeugend, dass die plötzlich steigende Nachfrage doch eine wichtigere Rolle gespielt haben könnte als bislang angenommen?

Ich halte es für plausibel, dass sowohl angebots- als auch nachfrageseitige Faktoren eine Rolle gespielt haben. Das zeigt sich auch in Analysen der EZB, selbst wenn man über die genauen Anteile sicher streiten kann. Angebotsseitige Faktoren waren zum Beispiel die Lieferkettenstörungen im Zuge der Pandemie oder der Energiepreisanstieg nach der russischen Invasion der Ukraine. Gleichzeitig gab es einen nachfragegetriebenen Boom, als die Wirtschaft nach den Lockdowns der Coronazeit wieder geöffnet wurde.

Haben auch die Haushaltspolitik der Staaten und die Geldpolitik der EZB während der Pandemie zur Inflationswelle beigetragen?

Fiskal- und Geldpolitik haben es damals gemeinsam geschafft, den schwersten Wirtschaftseinbruch der Nachkriegszeit schnell zu überwinden. Das war sehr wichtig. Allerdings sind sowohl die Fiskal- als auch die Geldpolitik relativ lange expansiv geblieben. Das dürfte einen Anteil an dem späteren Anstieg der Inflation gehabt haben. Man darf aber nicht vergessen, dass die Sorge vor einem Wiederaufflammen der Pandemie und einem erneuten Wirtschaftseinbruch damals sehr groß war.

Jetzt vor der Frankreichwahl haben die Finanzmärkte plötzlich höhere Risikoaufschläge für französische und italienische Staatsanleihen verlangt. Wie hat die EZB diese Entwicklung verfolgt?

Wir beobachten die Finanzmärkte sehr genau, weil sie eine wichtige Rolle spielen für die Transmission, also die Übertragung, unserer Geldpolitik. Die politische Unsicherheit in Frankreich und die Sorge über die zukünftige französische Fiskalpolitik führten an den Märkten zu einer veränderten Risikoeinschätzung mit höheren Risikoprämien für manche Staatsanleihen. Aber es kam zu keinem Zeitpunkt zu ungeordneten Marktturbulenzen, welche die Finanzstabilität oder die Transmission der Geldpolitik gefährdet hätten.

Die EZB plant nun abermals eine Strategieüberprüfung. Über was sollte man da nach Ihrer Einschätzung diskutieren – auch über das Inflationsziel?

Das Inflationsziel von mittelfristig 2 Prozent werden wir nicht diskutieren. Es hat sich in der Inflationsphase bewährt. Es ist klar definiert und es ist leicht verständlich. Deshalb gibt es keinerlei Notwendigkeit, das Inflationsziel anzupassen. Stattdessen würde ich die Strategieüberprüfung dafür nutzen, aus der Hochinflationsphase zu lernen und die Strategie an die veränderte makroökonomische Situation anzupassen.

An was denken Sie dabei konkret?

Wir sind nicht mehr in der Situation, dass die Inflation dauerhaft zu niedrig ist. Ganz im Gegenteil befürchten viele, dass wir uns in Zukunft häufiger inflationären angebotsseitigen Schocks gegenübersehen könnten. Wir sollten uns damit beschäftigen, wie wir auch in einem solchen Umfeld zuverlässig unser Mandat der Preisstabilität erfüllen können.

Zuletzt wurde die Frage noch mal neu diskutiert, wie hilfreich oder mit Nebenwirkungen belastet die billionenschweren Anleihekäufe des Eurosystems waren. Wie fällt da Ihre Bilanz aus?

Wir haben gesehen, dass Anleihekäufe oder bereits deren Ankündigung ein äußerst wirksames Instrument sind, um Marktturbulenzen entgegenzuwirken. Wenn es hingegen um die Bekämpfung zu niedriger Inflation geht, müssen Nutzen und Kosten stärker gegeneinander abgewogen werden. Wir haben gelernt, dass die Wirksamkeit von Anleihekäufen davon abhängt, in welchem makroökonomischen Umfeld wir uns befinden. Gleichzeitig haben wir gesehen, dass Anleihekäufe erhebliche Nebenwirkungen haben können; denken Sie an Zentralbankverluste oder Verzerrungen an den Finanzmärkten. Deshalb glaube ich, dass man Anleihekäufe in Zukunft gezielter einsetzen sollte. Auf jeden Fall zeitlich begrenzt in Krisensituationen – aber inwiefern es sinnvoll ist, über lange Zeit in einem großem Umfang Anleihen zu kaufen, um die Inflation nach oben zu bringen, sollten wir in unserer Strategieüberprüfung diskutieren.

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